Leben in Redis

Es war eine warme Nacht in Port Redis, obwohl der Himmel sternenklar war. Marilis stand auf ihrem kleinen Balkon, lehnte sich an die Brüstung und spürte den kalten Marmor, der sich gegen ihren Bauch drückte. Vom Landesinneren kam eine sanfte Brise, brachte den Geruch von Pinien und Staub, und versprach Freiheit.

Marilis wusste nicht, wie viele Abende sie bereits so verbracht hatte, egal ob der Wind so warm war wie heute oder kalt und salzig vom Meer her wehte. Sie wünschte sich so sehr, auf der Luft reiten zu können, und sich forttragen zu lassen, egal wohin. Wie oft hatte sie sich bereits fort gestohlen, nur um jedes mal wieder heim zu kommen, zurück in ihren goldenen Käfig.

Heute würde es anders sein. Der Gedanke war einerseits aufregend und andererseits zutiefst erschreckend. Sie würde fort gehen und nie mehr zurückkommen.

Wehmut erfüllte sie, als sie an ihre Mutter dachte, und daran, dass sie ihr damit das Herz brechen würde. Diese Gewissheit hatte sie bisher immer wieder zurückkehren lassen, denn sie liebte ihre Mutter sehr. Sie war eine so liebevolle, stille Frau, die ihre Tochter über alles liebte. Marilis wusste, dass auch ihr Vater sie liebte, obwohl er enttäuscht war, dass er keinen Sohn hatte, dem er seinen Titel vererben konnte. Diese Enttäuschung war es, die einen Keil zwischen ihn und seine Tochter getrieben hatte, sobald endgültig feststand, dass seine Frau keine weiteren Kinder mehr gebären würde. Damals war Marilis sechs Jahre alt gewesen, und von diesem Tag an war alles anders geworden.

Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie darüber nachdachte, dass es in Wahrheit nur der Adelstitel war, der zwischen ihr und ihrem Vater stand. Wären sie Bürgerliche gewesen, dann wäre es unerheblich gewesen, ob sie ein Sohn war oder eine Tochter. Die Handwerker, Händler und Beamten, die in Port Redis lebten, vererbten ihren Besitz an ihre Erstgeborenen oder teilten ihn noch zu Lebzeiten unter ihren Kindern auf, völlig egal welches Geschlecht sie hatten. Nur die Patrizier klammerten sich an diese sinnlose Tradition, stets an den männlichen Nachkommen zu vererben. Und je älter ein Patriziername war, desto hingebungsvoller hielt man daran fest.

Wenn man ihr wenigstens eine Wahl gelassen hätte. Natürlich waren Zwangsheiraten nicht mehr üblich, zumindest nicht offiziell. Doch im Grunde, so dachte Marilis bitter, hätte ihr Vater auch einfach befehlen können, wen sie zu ehelichen hatte. Wozu dieses Getue, wozu der Anschein? Weshalb spielte man ein Theaterstück, in dem es so aussah, als könnte sie den Antrag des Mannes abweisen, den ihr Vater längst anerkannt hatte?

Es war besonders diese Lüge, die Marilis zu ihrer Entscheidung bewogen hatte. Schon der Gedanke, den Rest ihres Lebens an der Seite eines Mannes zu verbringen, den sie nicht kannte und für den sie nichts empfand, war schlimm genug, aber auch noch so zu tun, als sei sie zufrieden und glücklich darüber, war mehr, als sie vertragen konnte. Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde, seit jenem Tag, als ihr Vater ihr ernsthaft erklärt hatte, dass sie sein einziges Kind bleiben würde, und welche Verpflichtungen für sie daraus erwuchsen. Was man von ihr erwartete.

Sie war viel zu klein gewesen, um es zu verstehen, und lange Zeit hatte sie angenommen, dass dies völlig normal und logisch wäre. Bis sie alt genug wurde, um über ihren Balkon hinaus zu blicken und zu sehen, wie sich das Leben in den Straßen von Port Redis abspielte.

Sie sah, wie jeden Tag Schiffe im Hafen der Stadt ein liefen oder ihn wieder verließen, und Waren aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt mitbrachten. Heimlich lauschte sie den Geschichten der Seeleute über die gefährlichen Reisen durch Untiefen und Stürme, um nach Ayworra, Linsar oder sogar fremden Kontinenten zu gelangen. Sie beobachtete die Soldaten der Händlergilde, die unter Tags die Warentransporte ihrer Auftraggeber bewachten oder wichtigen Kaufleuten Geleitschutz gaben, aber des Nachts in den Tavernen mit den Soldaten des Heeres um die Wette zechten und sich zu einem sinnlosen Wettstreit nach dem anderen hinreißen ließen. Sie sah, wie die Menschen sich verliebten, wie sie heirateten und ihr Leben zusammen verbrachten; manchmal glücklich und manchmal mit Zank.

Wie oft hatte sie sich des Nachts weggeschlichen, um am Hafen, der niemals schlief, an einer Bude Tand zu kaufen, oder einen späten Imbiss zu genießen. Sie hatte schnell gelernt, dass es beleuchtete Straßen in den besseren Vierteln gab, wo die reichen Kaufleute und die Patrizier wohnten, und die Soldaten aufmerksam patrouillierten. Hier konnte eine junge Dame zu jeder Uhrzeit sorglos einen Spaziergang wagen; obwohl man sie schon oft angehalten hatte, um ihr Hilfe und Geleitschutz nach Hause anzubieten. Andere Viertel hatte sie jedoch zu meiden gelernt – dort, wo selbst am Tag die Schatten tiefer waren als überall sonst, wo die Häuser schäbig getüncht waren und so manches Kind mit hohlen, hungrigen Augen herum lief. Dort ließ sie sich niemals blicken.

Am liebsten schlich sie sich in die „Wilde Siedlung“, die sich neben dem Hafen in den Marschen erstreckte und sogar ins Meer hinein gebaut war: dort hatten sich die Rwang und ihre Nachkommen angesiedelt, indem sie Häuser aus Holz auf Pfählen errichtet hatten oder schlichtweg in Booten wohnten. Ihre Behausungen waren untereinander durch Stege oder Hängebrücken verbunden, und oft wurden große Teile der Siedlung durch Flutwellen oder Stürme zerstört. Die Beamten der Stadt boten den Rwang niemals Hilfe an, wenn diese ihr Hab und Gut an das Meer verloren hatten, oder halfen bei der Suche nach vermissten Personen, die das Meer fortgespült hatte. Trotzdem bauten die Rwang die Siedlung immer wieder auf; zimmerten neue Häuser und neue Stege. Sie benutzten altes Sperrholz, das andernorts weggeworfen worden war oder Treibgut, welches das Meer angespült hatte, weil es ihnen verboten war, Bäume zu fällen. Sie holten Lianen aus dem Sumpf im Süden und verwendeten sogar getrockneten Torf, um daraus ihre Häuser zu bauen. Sie lebten zwischen Krokodilen, Schlangen und Stechmücken, und sie ertrugen es, weil sie nirgends anders hin konnten.

Das alles hatte Marilis erfahren, als sie Batu kennen lernte. Bereits bei ihrem ersten Ausflug in die Wilde Siedlung stolperte sie über ihn, als sie vor einem Krokodil erschrak, das direkt unter dem Steg, auf dem sie stand, das Maul aufriss. Als sie in diese Reihen spitzer Zähne sah, drehte sie sich um und lief fort, obwohl sie gar nicht in Gefahr war, und sie rempelte Batu um, der weiter unten am Steg saß und mit einem groben Faden fischte. Sie hatte zuvor nie einen Rwang aus der Nähe gesehen oder mit einem gesprochen, und schon gar nicht war sie einem jungen Mann auf der Brust gelegen; egal woher er stammte.

Batu war mindestens so erschrocken wie sie selbst, und er fluchte herzhaft in der Sprache seines Volkes, als er erkannte, dass er es mit einem Stadtmädchen zu tun hatte.

Das war vor einem Jahr gewesen, als Marilis sechzehn gewesen war und Batu neunzehn. Sie konnte sich genau erinnern, wie verstockt er anfangs gewesen war und gar nicht mit ihr sprechen wollte aus Angst, sich großen Ärger einzuhandeln. Aber sie war so fasziniert gewesen von diesem fremdartigen, dunklen Gesicht, seinem schwarzen, geflochtenen Haar und den seltsamen Tätowierungen, die auf seinem Oberkörper prangten. Sie ließ nicht locker, ehe er sich bereit erklärte, ihr die Siedlung zu zeigen. Also nahm er sie mit und stellte sie der Schamanin vor, die Marilis mit ihrer ruhigen, weisen Art zutiefst beeindruckte. Er zeigte ihr Familien, die trotz ihrer bitteren Armut die Hoffnung nicht verloren hatten und Eltern, die ihren Kindern eine glückliche Zukunft ermöglichen wollten. Aber sie sah auch den Hunger und die Verzweiflung. Sie sah Männer und Frauen mit gebrochenen Augen, die ihre Hoffnungslosigkeit in Alkohol oder Rauschkraut ertränkt hatten und Kinder, die stehlen und betteln mussten, um zu überleben.

Trotzdem kam sie wieder, und Batu zeigte ihr immer mehr von seiner Welt. Sie lernte seine Familie kennen und seine Freunde. Nicht alle waren auch freundlich zu ihr, weil sie aus der Stadt kam und helle Haut hatte. Aber Batu verteidigte sie vor jedem, der feindselig zu ihr war. Er brachte ihr bei, wie man mit Bindfaden und Knochenhaken fischen konnte, wie man einen Fisch ausnimmt und brät, er zeigte ihr, zu welcher Stunde man im Sumpf tausende Glühwürmchen beobachten konnte und erklärte ihr, was seine Tätowierungen bedeuten sollten. Er war ein Wilder, den die Bewohner von Port Redis nicht einmal mit einem verächtlichen Blick bedacht hätten, aber er war frei. Und sie verliebte sich in ihn.

Vielleicht, so überlegte Marilis, wäre diese Liebe wie ein Strohfeuer verglüht, wenn Batu sie nicht erwidert hätte, oder wenn sie unter den Patriziersöhnen hätte wählen dürfen. Doch nicht einmal diese kleine Freiheit wollte ihr Vater ihr gestatten. Ihm war kein Sohn vergönnt gewesen, also wollte er zumindest seinen Schwiegersohn nach seinen Wünschen bestimmen und war sich sicher, dass seine Wahl auch für seine Tochter das Beste wäre. Es gab keine Abmachungen zwischen ihm und seinem Favoriten, keine direkten Aufforderungen oder Arrangements. Der Zwang wurde niemals offen ausgesprochen, und das machte ihn noch viel unerträglicher.

Die Sonne war bereits vor zwei Stunden untergegangen, und langsam machte Marilis sich Sorgen. Was, wenn Batu doch nicht kam? Sie konnte es sich kaum vorstellen, aber ihre Angst verursachte Zweifel. Sie wurde immer nervöser und als sie sich dabei erwischte, wie sie nervös auf ihre Lippen biss, hörte sie endlich das vereinbarte Zeichen auf der Straße. Sie beugte sich über die Brüstung, und sah ihn dort neben den Ziersträuchern stehen. In diesem Augenblick fielen alle Zweifel von ihr ab, und auch die Trauer und die Angst vor dem Ungewissen blieben zurück.

Sie schwang die Beine über die Brüstung, fand den Vorsprung, den sie schon so oft benutzt hatte, um ihrem Elternhaus zu entkommen, hangelte sich zur Regenrinne und schließlich auf das Fensterbrett im ersten Stock. Von dort aus waren es nicht einmal zwei Meter bis zum Boden, und sie ließ sich einfach fallen, wie so oft. Aber zum ersten Mal wurde sie aufgefangen, bevor ihre Füße die Straße berührten.

Batu war noch niemals hierher gekommen, denn die Straßen der Reichen und Schönen waren nicht seine Welt. Auch jetzt war ihm deutlich anzumerken, wie unwohl er sich fühlte.

„Bist du dir sicher, dass du das tun willst?“ fragte er Marilis. „Jetzt kannst du noch zurück, ohne dass jemand etwas merkt.“ Marilis wollte ihm einen Finger auf den Mund legen, doch er ließ sich nicht beirren. „Ich kann dir nichts bieten außer einem Leben in Armut,“ meinte er.

Marilis schüttelte den Kopf und meinte energisch: „Ich bin kein kleines Kind, Batu, und wenn ich keine eigenen Entscheidungen treffen könnte, dann würde ich die meines Vaters bedenkenlos hinnehmen. Aber ich verbringe mein Leben lieber mit dir in Armut, als in Reichtum mit diesem Inzuchtprodukt, das mein Vater für mich ausgesucht hat. Das Schicksal hat mich zu dir geführt.“

Batu nickte. Seine eigene Famile folgte immer noch den alten Traditionen und ehrte die Geister, die Ahnen und die Totemtiere. Doch er wusste, dass die Whenuer das Schicksal verehrten, und dass Marilis bestimmt an einem Schrein gebetet hatte, bevor sie sich zur Flucht entschloss. Er respektierte es.

Also flohen sie in dieser Nacht aus Port Redis ins Landesinnere. Sie hatten vor, sich nach Linsar durch zu schlagen, wo es nur wenige große Städte gab und dafür noch viel Urwald und viele Rwang. In Linsar hieß es, konnte ein mutiger Mensch sein Glück machen, egal woher er kam oder welcher Abstammung oder welchen Geschlechts er war. Marilis wusste, dass es Batu noch viel schwerer fiel, seine Familie zu verlassen, als ihr, aber er zeigte es nicht, sondern blickte immer nach vorn.

Also tat sie es ihm gleich und sah niemals zurück.

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